Der mammalische Tauchreflex (engl. Mammalian Dive Reflex) ist ein evolutionäres Überlebensprogramm, das alle Säugetiere (also auch wir Menschen) in sich tragen. Er sorgt dafür, dass der Körper bei plötzlichem Kontakt mit kaltem Wasser innerhalb von Sekunden in einen sauerstoffsparenden Zustand wechselt, in dem Herzschlag und Stoffwechsel stark heruntergefahren werden.
Was ursprünglich dazu diente, das Überleben unter Wasser zu sichern, ist heute ein mächtiges Werkzeug in der Atemarbeit, Stressregulation und Selbstheilung.
🔍 Wie funktioniert der Tauchreflex?
Der Tauchreflex wird vor allem durch kaltes Wasser im Gesichtsbereich ausgelöst, besonders in der Zone rund um Augen, Stirn, Nase und Oberlippe, wo sich eine hohe Dichte an thermosensiblen Rezeptoren befindet. Diese Rezeptoren registrieren die Kälte und leiten über den Trigeminusnerv Signale direkt an das Gehirn weiter, genauer gesagt an den Hirnstamm, das Zentrum unserer unbewussten Überlebensmechanismen.
Das Nervensystem schaltet innerhalb von Sekunden in einen anderen Zustand:
- Die Herzfrequenz sinkt rapide (Bradykardie), teilweise auf unter 40 Schläge pro Minute.
- Blutgefäße in der Peripherie (Hände, Füße, Haut) verengen sich stark (Vasokonstriktion), um die Durchblutung von lebenswichtigen Organen wie Herz und Gehirn sicherzustellen.
- Die Atemfrequenz wird reduziert, der Körper spart Sauerstoff.
Dieses Zusammenspiel wird vom parasympathischen Nervensystem gesteuert, vor allem über den Vagusnerv – den Hauptnerv für Ruhe, Erholung und Regeneration. Gleichzeitig schützt der Reflex uns vor einem schnellen Sauerstoffabfall und hilft, das innere Gleichgewicht (Homöostase) wiederherzustellen.
Bemerkenswert ist: Dieser Reflex funktioniert ohne Training, ohne Willenskraft, er ist angeboren und sofort aktivierbar. Selbst bei Babys lässt er sich beobachten, sobald ihr Gesicht mit Wasser in Kontakt kommt.
Auch für die Atemarbeit bedeutet das: Du hast mit dem Tauchreflex ein biologisches Werkzeug in der Hand, das sich gezielt mit Atemtechniken und Kältereizen kombinieren lässt, um Zustände von innerer Ruhe, Klarheit und physiologischer Balance zu erreichen.
🧬 Beteiligte Nerven & Gehirnregionen
Der Tauchreflex ist ein Paradebeispiel für die Leistung unseres autonomen Nervensystems und ein faszinierendes Zusammenspiel zwischen peripheren Reizen, zentralem Nervensystem und Hormonsystem.
Hier sind die wichtigsten Strukturen, die dabei eine Rolle spielen:
Trigeminusnerv (Nervus trigeminus)
Der fünfte Hirnnerv ist hauptverantwortlich für die Wahrnehmung von Berührungs- und Temperatursignalen im Gesicht. Sobald kaltes Wasser auf die sensiblen Zonen rund um Stirn, Augen und Nase trifft, werden diese Reize über den Trigeminus an den Hirnstamm gemeldet. Dieser Impuls aktiviert blitzschnell den Tauchreflex.
Vagusnerv (Nervus vagus)
Der zehnte Hirnnerv ist der „Chef“ des parasympathischen Nervensystems – zuständig für Regeneration, Verdauung, Herzfrequenzregulation und innere Ruhe. Im Rahmen des Tauchreflexes wird der Vagus stark stimuliert, was zur Verlangsamung des Herzschlags (Bradykardie) und einem Gefühl tiefer Beruhigung führt.
Viele Atemtechniken zielen genau auf diese vagale Aktivierung ab, der Tauchreflex ist ein natürlicher Verstärker dafür.
Amygdala & Hypothalamus
Die Amygdala bewertet sensorische Reize emotional, kaltes Wasser wird kurzfristig als Gefahr wahrgenommen. Der Hypothalamus leitet dann über die HPA-Achse eine sympathische Stressantwort ein (Cortisol, Adrenalin) bevor der Parasympathikus übernimmt. Das zeigt: Der Tauchreflex aktiviert beide Zweige des autonomen Nervensystems, jedoch in zeitlich abgestufter Reihenfolge.
Hirnstamm (Medulla oblongata)
Das Steuerzentrum für Atmung, Herz-Kreislauf und Reflexe. Hier laufen die Signale zusammen, der Hirnstamm koordiniert die Antwort ohne bewusste Beteiligung des Großhirns. Der Reflex ist also autonom, blitzschnell und überlebenswichtig.
🔄 Der Ablauf
Der Tauchreflex läuft in mehreren Phasen ab, wobei das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus eine zentrale Rolle spielt. Dieses Muster lässt sich hervorragend auch in der Atemarbeit erkennen – besonders im Wechsel zwischen Anspannung & Entspannung, Einatmung & Ausatmung, Halten & Loslassen.
1️⃣ Phase 1: Sympathische Aktivierung / Alarm & Mobilisierung
Sobald das Gesicht mit kaltem Wasser in Kontakt kommt, registriert das Gehirn dies als plötzlichen Umweltstress.
- Die Amygdala springt an, der Hypothalamus aktiviert die HPA-Achse.
- Es kommt zu einem kurzen Anstieg von Herzfrequenz, Blutdruck und Stresshormonen (Adrenalin, Cortisol).
- Dies bereitet den Körper auf eine Reaktion vor – ein Reflex auf potenzielle „Gefahr“.
2️⃣ Phase 2: Parasympathische Dominanz / Ruhe & Regulation
Innerhalb von Sekunden übernimmt der Vagusnerv:
- Die Herzfrequenz sinkt rapide (Bradykardie), oft unter 40 bpm
- Periphere Blutgefäße verengen sich, Blut wird zentralisiert (Herz, Lunge, Gehirn)
- Die Atemfrequenz reduziert sich, der Körper spart Sauerstoff
- Eine tiefe innere Ruhe setzt ein, ideal für emotionale Regulation, Fokus & Erdung
3️⃣ Phase 3: Sauerstoffsparmodus / Effizienz & Überleben
Jetzt schaltet der Körper in den echten „Survival-Modus“:
- Weniger Sauerstoffverbrauch durch reduzierte Durchblutung und Stoffwechsel
- Längere Atempausen werden möglich
- Das Gehirn bleibt klar und versorgt, obwohl weniger geatmet wird
- Dieser Zustand ist hervorragend nutzbar für Atempausentechniken, z. B. in der CO₂-Toleranzschulung
🧘🏼♂️Relevanz für Breathwork-Praxis
Der Wechsel vom sympathischen Alarmzustand in die parasympathisch dominierte Ruhe ist genau das, was viele Menschen im Alltag verlernt haben.
Durch gezielte Kälte-Reize kombiniert mit bewusster Atmung kann man diesen biologischen Reset wieder aktivieren, natürlich, sicher und tief verankert im Nervensystem.
🫁 Gasaustausch & Atmung – Die Rolle von CO₂ und O₂
Wenn es um Atmung geht, denken viele Menschen sofort an Sauerstoff (O₂), dabei ist es oft das Kohlenstoffdioxid (CO₂), das den größten Einfluss auf unsere Physiologie und unser Stressempfinden hat. Der Tauchreflex ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Körper mit Sauerstoff umgeht, wenn er knapp wird und welche intelligenten Strategien er entwickelt hat, um diesen möglichst effizient zu nutzen.
CO₂ ist nicht nur Abfall, sondern ein Signalgeber
CO₂ entsteht als Nebenprodukt im Zellstoffwechsel. Steigt der CO₂-Spiegel im Blut, sinkt der pH-Wert und das Zentrale Atemzentrum im Hirnstamm registriert:
„Jetzt musst du wieder atmen!“
Nicht Sauerstoffmangel, sondern CO₂-Anstieg ist der Hauptauslöser für Atemreiz.
Wer CO₂ besser toleriert, kann tiefer entspannen, längere Atempausen halten und Stress besser regulieren.
Tauchreflex & CO₂-Retention
Beim Eintauchen des Gesichts in kaltes Wasser (oder beim Eisbaden) reagiert der Körper mit Herabsetzung von Herz- und Atemfrequenz – dadurch wird weniger Sauerstoff verbraucht. Gleichzeitig steigt der CO₂-Wert langsam an, ohne dass sofort Panik entsteht.
Dies trainiert genau das, was viele Breathwork-Techniken anstreben:
- Erhöhung der CO₂-Toleranz
- Bessere Kontrolle über Atemreiz und emotionale Reaktionen
- Tiefe physiologische Entspannung
Sauerstoff wird gezielt geschont
Ein zentraler Effekt des Tauchreflexes ist die O₂-Konservierung:
- Der Körper priorisiert die Durchblutung von Gehirn und Herz
- Muskelaktivität wird reduziert, Stoffwechsel heruntergefahren
- So entsteht ein Zustand von maximaler Energieeffizienz
Diese Mechanismen lassen sich bewusst mit Breath-Holds, Kältereizen und gezielter Atemarbeit nutzen, um mehr Zugang zu innerer Ruhe, Kontrolle und mentaler Klarheit zu bekommen.
🧪 Neurotransmitter & Hormone – Biochemie der Kälte
Neben der physiologischen Regulation auf Herz-, Atem- und Gefäßeebene hat der Tauchreflex auch massive Auswirkungen auf das Hormonsystem und die Gehirnchemie. Kältereize, kombiniert mit bewusster Atmung, verändern die Ausschüttung wichtiger Neurotransmitter und Hormone – mit spürbaren Effekten auf Stimmung, Antrieb, Fokus und Stressverarbeitung.
Noradrenalin (Norepinephrin)
- Steigt beim Tauchreflex und bei Kältereizen um bis zu 500 %
- Wirkung: Wachheit, Aufmerksamkeit, Klarheit, gesteigerter Fokus
- Unterstützt entzündungshemmende Prozesse und Schmerzregulation
Praxisbezug: Ideal bei mentaler Erschöpfung, Brain Fog oder zur Aktivierung vor Herausforderungen (z. B. Präsentationen, Wettkämpfe)
Dopamin
- Steigt um bis zu 250 % bei Kältereizen wie Eisbaden
- Wirkung: Motivation, Antrieb, Wohlgefühl
- Bleibt oft stundenlang erhöht, was eine positive Stimmungslage begünstigt
Praxisbezug: Stimmungsaufhellend ohne Nebenwirkungen – hilfreich bei depressiven Verstimmungen oder Energiemange
GABA (Gamma-Aminobuttersäure)
- Wichtigster beruhigender Neurotransmitter
- Steigt durch vagale Aktivierung und gezielte Atemarbeit
- Wirkt angstlösend, entspannend, regulierend auf den Geist
Praxisbezug: Essentiell bei Übererregung, Schlafproblemen, innerer Unruhe
Cortisol & Adrenalin
- Kurzfristiger Anstieg durch Kälteschock → Mobilisierung
- Langfristige Reduktion bei regelmäßiger Exposition
- Trainingseffekt: Der Körper lernt, weniger stark auf Stressreize zu reagieren
🧘🏻♂️ Hormone als Wegweiser für Nervensystemzustände
Die Hormonantwort auf Kälte und Atemkontrolle zeigt deutlich:
Das, was im Außen als „Stress“ beginnt, kann im Inneren zu Resilienz, Klarheit und innerer Balance führen, wenn man bewusst damit umgeht.
🧘♀️ Breathwork & Tauchreflex in der Praxis
Der mammalische Tauchreflex ist kein theoretisches Konzept – er ist ein biologisches Werkzeug, das du in der Atemarbeit gezielt einsetzen kannst. Besonders in Kombination mit bestimmten Atemmustern, CO₂-Toleranztraining und Kältereizen (wie kaltem Wasser oder Eis-Packs) ergibt sich ein kraftvoller Zugang zur Regulation des autonomen Nervensystems.
Vagusstimulation durch Kältereiz & Atemkontrolle
Durch das Eintauchen des Gesichts in kaltes Wasser oder das Platzieren von Eis-Packs auf Stirn, Wangen und Nase aktivierst du gezielt den Trigeminusnerv → dieser gibt den Reiz an den Hirnstamm weiter → der Vagusnerv wird stimuliert → Herzfrequenz sinkt, Ruhe stellt sich ein.
Kombiniere das z. B. mit:
- Verlängerten Ausatmungen
- Atempause nach der Ausatmung (Exhale Holds)
- Low & Slow Breathing (unter 6 Atemzüge/Minute)
→ Du verstärkst so den parasympathischen Zustand und trainierst deine CO₂-Toleranz gleichzeitig.
Der Wechsel zwischen Spannung & Entspannung
Der Tauchreflex aktiviert zunächst den Sympathikus (kurzer Alarm), danach übernimmt der Parasympathikus.
In Breathwork-Sitzungen kann dieser Wechsel bewusst eingebaut werden:
- Aktivierende Atemphasen (z. B. holotrope oder Wim-Hof-Atmung)
- gefolgt von Retentionsphasen und/oder Kältereiz
- zur Einleitung von tiefer Entspannung
Diese Sequenz ist nicht nur effektiv, sondern auch erlebbar – sie führt den Klienten spürbar von Fight-or-Flight zu Safety & Stillness.
Zugang zum Zustand des „Stillen Tauchens“
In der Tiefe des Tauchreflexes entsteht ein Zustand, den viele erfahrene Breathworker als „neutrale Weite“ oder „Innere Stille“ beschreiben:
- Der Körper ist ruhig, der Geist klar, das Zeitgefühl verändert sich.
- Oft berichten Klient*innen von emotionaler Verarbeitung, tiefer Verbundenheit oder tranceartigen Zuständen.
Dieser Zustand ist nicht forciert, sondern ein Nebenprodukt der Körperintelligenz, die du mit der richtigen Technik freilegst.
🧊 Praktische Anwendung & Tipps

Hier einige einfache, wirkungsvolle Ansätze:
✅ Möglichkeit 1: Eispack-Methode (Face-Dunk Light)
- Lege einen in kaltes Wasser getauchten Waschlappen oder Eispack auf Stirn, Wangen und Nasenrücken
- Atme dabei langsam (z. B. 4 Sekunden ein, 6-8 Sekunden aus)
- Optional: Atempause nach der Ausatmung (CO₂-Toleranztraining)
- 2-5 Minuten reichen, um den Vagusnerv zu aktivieren
- Ideal zum Start oder Abschluss einer Breathwork-Session
✅ Möglichkeit 2: Bowl-Dive / Face Dunk
- Fülle eine Schüssel mit eiskaltem Wasser & Eiswürfeln
- Halte den Atem an, tauche dein Gesicht 10-30 Sekunden unter Wasser
- Maximal 3 Wiederholungen, mit Pause dazwischen
- Ideal zur Akutregulation bei Stress, Panik, Overthinking
⚠️ Wichtig: Nur im Sitzen & unter Aufsicht, niemals in der Dusche oder ohne Vorbereitung!
✅ Möglichkeit 3: Kombi aus Atem & Kälte
- Führe 1–2 Runden aktivierender Atmung durch
- Danach: Eispack aufs Gesicht + bewusste Ausatmung + Retention
- → Ideal zur Selbstregulation, Erdung & Reset
🔁 Wiederholung macht den Effekt
Wie beim Atemtraining gilt auch hier: Der Reflex verstärkt sich mit der Übung.
Schon 3-5 Minuten täglich reichen, um:
- den Herzschlag zu beruhigen
- das Nervensystem zu regulieren
- die CO₂-Toleranz zu erhöhen
- deine emotionale Resilienz zu stärken
🛡️ Sicherheit geht vor
- Keine Anwendung bei Herzproblemen, Epilepsie oder unklaren Diagnose
- Immer ruhige Umgebung & stabile Körperhaltung
- Nie alleine bei starkem Kältereiz oder Atemanhalten
Beobachte: Wird dir schwindlig, unwohl, unklar → abbrechen!
📚 Wissenschaftliche Studien und Quellen
The human diving response, its function, and its control
Foster & Sheel (2005)
- Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 15(1), 3–12
- Sehr gute Übersicht zu Bradykardie, peripherer Vasokonstriktion, Vagus-Aktivierung.
- Link: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1600-0838.2005.00440.x
Cardiovascular responses to apnea during dynamic exercise
Hoffmann, Smerecnik, Leyk, Essfeld (2005)
- International Journal of Sports Medicine, 26(7), 552–557
- Zeigt deutliche Blutdrucksteigerung und Bradykardie durch Atemanhalten, unabhängig von Hypoxie.
- Link: https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-2004-821113
Mechanism of the human diving response
Gooden, B. A. (1994)
- Integrative Physiological and Behavioral Science, 29(1), 6–16
- Detaillierte Erklärung des Trigeminus-Reflexes und Hirnstammmechanismen.
- Link: https://link.springer.com/article/10.1007/BF02691277
The polyvagal perspective
Porges, S. W. (2007)
- Biological Psychology, 74(2), 116–143
- Über die Rolle des Vagusnervs bei Stressregulation und sozialer Sicherheit.
- Link: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0301051106001324
The human diving response, trigeminal reflexes and cold water survival
Tipton et al. (2017)
- Experimental Physiology, 102(11), 1327–1334
- Erklärt, wie Kältereiz im Gesicht Reflexe und Überlebensmechanismen aktiviert.
- Link: https://physoc.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1113/EP086283
Kernaussagen aus den Studien:
- Kältereiz auf Stirn, Nase & Wangen aktiviert über den Trigeminusnerv den Hirnstamm.
- Folgt: Bradykardie (Herzfrequenz sinkt oft um 10–25 %).
- Aktiviert Vagusnerv → Parasympathikus → Beruhigung.
- Verstärkt durch Atemanhalten oder verlängerte Ausatmung.
- Dopamin & Noradrenalin steigen kurzfristig → Wachheit, Fokus.