Wir alle kennen das Gefühl von Stress: der Kopf arbeitet auf Hochtouren, der Puls geht schneller, manchmal raubt er uns sogar den Schlaf. Stress ist an sich nichts Schlechtes – er hilft uns, in schwierigen Situationen schnell zu reagieren. Aber wenn Stress dauerhaft anhält, kann er unserem Körper und unserer Psyche schaden.
Ein wichtiger Schlüsselspieler in diesem Prozess ist Cortisol, oft auch „Stresshormon“ genannt. Viele Menschen suchen nach Möglichkeiten, ihren Cortisolspiegel wieder ins Gleichgewicht zu bringen – von Sport über Meditation bis hin zu Atemübungen. Besonders spannend: Die sogenannte Zwerchfell- oder Diaphragma-Atmung, also bewusstes tiefes Atmen mit dem Zwerchfell. Erste wissenschaftliche Studien zeigen, dass diese einfache Technik das Stressniveau tatsächlich senken kann.
Cortisol und Stress
Cortisol ist ein Hormon, das von den Nebennieren ausgeschüttet wird. Es gehört zu unserem natürlichen „Alarm-System“. Wenn wir Stress erleben – sei es ein voller Terminkalender, ein Konflikt oder auch körperliche Anstrengung – steigt der Cortisolspiegel im Blut.
Kurzfristig ist das sogar sehr nützlich: Cortisol sorgt dafür, dass wir wacher sind, schneller Energie zur Verfügung haben und leistungsfähig bleiben. Problematisch wird es jedoch, wenn Cortisol dauerhaft erhöht ist. Dann kann es zu typischen Stressfolgen kommen:
- schlechter Schlaf
- Bluthochdruck
- geschwächtes Immunsystem
- Gewichtszunahme oder Probleme mit dem Blutzucker
Normalerweise folgt Cortisol einem Tagesrhythmus: morgens ist der Spiegel hoch (damit wir in die Gänge kommen), abends sinkt er ab (damit wir zur Ruhe kommen). Dauerstress bringt diesen Rhythmus durcheinander. Genau hier setzen Methoden wie die Diaphragma-Atmung an: Sie können helfen, den Körper aus dem „Dauer-Alarmzustand“ herauszuführen.
Was ist Diaphragma-Atmung?
Die Diaphragma-Atmung – oft auch Bauchatmung genannt – ist eine Atemtechnik, bei der das Zwerchfell (ein großer Muskel unterhalb der Lunge) bewusst genutzt wird.
Im Alltag atmen viele Menschen eher flach und schnell, hauptsächlich in den Brustkorb. Die Diaphragma-Atmung geht tiefer:
Beim Einatmen wölbt sich der Bauch sanft nach außen, weil sich das Zwerchfell nach unten bewegt.
Beim Ausatmen zieht sich der Bauch wieder zurück.
Das fühlt sich ungewohnt an, weil wir es oft verlernt haben, Babys atmen so aber ganz automatisch.
Ein einfaches Bild: Stell dir vor, du füllst einen Luftballon im Bauchbereich mit Luft und lässt ihn dann wieder langsam entweichen.
Praktischer Tipp:
Lege eine Hand auf deinen Bauch und die andere auf die Brust. Atme langsam durch die Nase ein. Wenn sich die Hand auf dem Bauch hebt, aber die auf der Brust weitgehend ruhig bleibt, machst du es richtig.
Wie kann Atmung Cortisol beeinflussen?
Auf den ersten Blick wirkt es fast zu einfach: „Ein bisschen atmen und schon sinkt das Stresshormon?“ Aber genau das passiert im Körper – und die Wissenschaft beginnt zu erklären, warum.
Aktivierung des Entspannungsnervs (Parasympathikus)
Langsames, tiefes Atmen signalisiert dem Nervensystem: „Alles ist sicher.“ Dadurch wird der Parasympathikus (der sogenannte „Ruhenerv“) aktiviert. Er ist das Gegenstück zum Stressmodus und sorgt dafür, dass Herzschlag, Blutdruck und Atmung sich beruhigen.
Dämpfung der Stressachse (HPA-Achse)
Normalerweise sorgt Stress dafür, dass die sogenannte HPA-Achse aktiv wird – ein System aus Gehirn und Nebennieren, das Cortisol ausschüttet. Durch die Aktivierung des Parasympathikus kann diese Stressachse „heruntergefahren“ werden. Das bedeutet: weniger Cortisol wird freigesetzt.
Gefühlskontrolle und Klarheit
Tiefe Atmung verlangsamt nicht nur körperliche Prozesse, sondern wirkt auch auf das Gehirn. Viele berichten, dass sie ruhiger, klarer und weniger überwältigt sind. Das alleine kann schon verhindern, dass der Körper ständig im Alarmzustand bleibt.
Man könnte sagen: Mit jeder bewussten Bauchatmung geben wir dem Körper die Nachricht: „Du musst nicht kämpfen oder fliehen – du darfst entspannen.“
Was sagen die Studien?
Die Wirkung von Diaphragma-Atmung ist nicht nur Gefühlssache – sie wurde in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen getestet. Hier ein Überblick über die spannendsten Ergebnisse:
Menschen, die über acht Wochen regelmäßig Bauchatmung geübt haben, hatten deutlich niedrigere Werte des Stresshormons Cortisol im Speichel als jene, die keine Übungen machten.
Wenn Leistungssportler nach einem harten Training eine Stunde lang bewusst tief geatmet haben, sank ihr Cortisolspiegel. Zusätzlich zeigte sich, dass ihr Körper weniger durch „oxidativen Stress“ belastet war – also weniger Abbauprozesse durch freie Radikale liefen.
Bei Patientinnen mit systemischer Sklerose (einer Autoimmunerkrankung) führte regelmäßiges Atemtraining über mehrere Wochen nicht nur zu niedrigeren Cortisolwerten, sondern auch zu besserem Schlaf, weniger Angst und mehr Energie.
Wenn Forscher viele Studien gemeinsam ausgewertet haben, fanden sie einen klaren Trend: Zwerchfell-Atmung reduziert Stress – sowohl messbar im Körper (z. B. Cortisol, Blutdruck, Puls) als auch im Erleben (z. B. weniger Anspannung, mehr Ruhe).
Besonders stark wirkt die Atmung, wenn sie mit Bewegung oder Achtsamkeitsübungen kombiniert wird. Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes konnte so der Cortisolspiegel um fast ein Drittel gesenkt werden.
Kurz gesagt: In sehr unterschiedlichen Gruppen – Gesunde, Sportler, chronisch Kranke – zeigt sich derselbe Effekt: Weniger Stresshormone, mehr innere Ruhe.
Wo liegen die Grenzen der Forschung?
So vielversprechend die Ergebnisse sind, sie haben auch ihre Schwächen:
Kleine Teilnehmerzahlen:
Viele Studien hatten nur wenige Dutzend Teilnehmer. Das macht es schwer, die Ergebnisse auf „alle Menschen“ zu übertragen.
Unterschiedliche Methoden:
Mal wurde eine Stunde geatmet, mal über Wochen hinweg täglich. Die Übungen waren nicht immer identisch. Deshalb lässt sich noch nicht sagen: Wie oft und wie lange sollte man genau üben?
Messprobleme bei Cortisol:
Cortisol schwankt natürlicherweise im Tagesverlauf (morgens hoch, abends niedrig). Wenn Studien Cortisol zu unterschiedlichen Tageszeiten messen, kann das die Ergebnisse verfälschen.
Unklare Dauerhaftigkeit:
Viele Studien messen direkt nach der Übungsphase. Ob die Effekte auch Monate oder Jahre später noch spürbar sind, ist bisher kaum untersucht.
Trotz dieser Einschränkungen zeigen die bisherigen Daten einen klaren roten Faden:
Die Bauchatmung hat messbare Effekte auf Körper und Psyche. Aber wir brauchen mehr große, vergleichbare Studien, um genau zu verstehen, wie stark und wie dauerhaft diese Wirkung ist.
Tipps
Die gute Nachricht: Zwerchfell-Atmung ist einfach zu erlernen, kostet nichts und kann jederzeit geübt werden. Hier ein paar Tipps, wie du starten kannst:
Der richtige Ort:
Am Anfang übst du am besten an einem ruhigen Platz, wo du dich hinsetzen oder hinlegen kannst.
Hand auf den Bauch:
Lege eine Hand auf den Bauch, die andere auf die Brust. Atme langsam durch die Nase ein. Wenn sich die Hand auf dem Bauch hebt, während die Brust weitgehend ruhig bleibt, machst du es richtig.
Langsames Tempo:
Versuche, nur 4–6 Atemzüge pro Minute zu machen. Das heißt: etwa 4 Sekunden einatmen, 6 Sekunden ausatmen.
Dauer:
Schon 5–10 Minuten täglich können einen Unterschied machen. Viele Studien arbeiteten mit längeren Zeiten (20–30 Minuten) oder mehrwöchigen Programmen. Starte klein und steigere dich.
Regelmäßigkeit zählt:
Wie beim Sport gilt: lieber regelmäßig kurz, als selten sehr lang. Die Effekte auf Cortisol entstehen vor allem dann, wenn du über Wochen übst.
Vor dem Schlafengehen:
Viele Menschen empfinden es als besonders angenehm, Bauchatmung am Abend zu machen, um den Kopf „herunterzufahren“ und besser einzuschlafen.
Kombinationen:
Studien zeigen, dass die Wirkung noch stärker sein kann, wenn man die Atmung mit Achtsamkeitsübungen oder leichter Bewegung kombiniert.
Quellen / Studien
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28626434/ (RCT: 8 Wochen Diaphragma-Atmung bei Gesunden, Cortisol ↓)
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2017.00874/full (Vertiefung: Cortisol-Reduktion und psychologische Effekte)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19875429/ (Athleten: Atemübung nach Training, Cortisol ↓, oxidativer Stress ↓)
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3139518/ (Vertiefung: oxidative Balance und Melatonin)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/40485947/ (Systemische Sklerose: 12 Wochen Tele-Atemtraining, Cortisol ↓, Schlaf & Stimmung ↑)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31436595/ (Systematisches Review: Atemübungen und Stressmarker)
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10373883/ (T2DM: Kombination aus Sport, Atmung, Achtsamkeit, Cortisol ↓ um ~30 %)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34491340/ (T2DM: Atemübungen + Entspannung, Cortisol & HbA1c ↓)